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Let the sun shine in your heart: Was die Musikwissenschaft mit der Love Parade zu tun hat oder Von der diskursiven Konstruktion des Musikalischen

Peter Wicke

Die Frage, was die Musikwissenschaft mit der Berliner Love Parade 1 zu tun hat, läßt sich kurz und bündig beantworten - nichts. Was diese Antwort so prekär macht, ist der Umstand, daß sie noch nicht einmal einen Anflug von Verwunderung oder gar Betroffenheit auslöst. Wenn in der Öffentlichkeit mit Vehemenz über die kulturellen Wirkungen von Musik gestritten wird und anhand der jüngsten Hervorbringungen des zeitgenössischen Musikbetriebs nach dem Zusammenhang von Klang und Sinn, Musik und Macht gefragt wird, dann ist das sichtlich für die mit der Musik beschäftigte Wissenschaft noch lange kein Thema. Musikfachleute, an denen das gigantische Großereignis der Raver-Szene durch schlichte Unkenntnis vorbeigegangen ist, sehen in dieser Tatsache - wenn sie denn darin überhaupt etwas sehen - allenfalls eine beruhigende Bestätigung der Immunität des Fachs gegen jeglichen, vom Zeitgeist genährten Opportunismus. Schließlich ist mit einigem Recht zu konstatieren, daß das, was ohnehin stattfindet, wohl kaum der akademischen Weihe bedarf oder gar, wie das überlieferte Erbe der Klassik, gegen die Widrigkeiten der Zeitläufe verteidigt werden muß.

Doch mit ebenso großem Recht ist demgegenüber die Frage aufzuwerfen, was der Anspruch auf eine »Wissenschaft« von der Musik noch taugt, wenn diese zu einem großen Teil der musikkulturellen Entwicklungsprozesse, von denen sie umgeben ist, nichts zu sagen weiß. Sicher wäre es ein einigermaßen skuriles Unterfangen, mit dem analytischen und theoretischen Instrumentarium von Musikwissenschaft den Ravern ihre Kultur erklären zu wollen. Doch die Tatsache, daß die Musik in den kulturellen Zusammenhängen außerhalb der Mauern von Universitätsinstituten eine derartige Präsenz erhalten hat, daß ein Ereignis wie die Love Parade ein auf etwa eineinhalb Millionen geschätztes Publikum im Wortsinn auf die Beine bringt und anhaltende Diskussionen in den Medien über den Stellenwert von Musik in der heutigen Gesellschaft auslöst, sollte für die Musikforschung eigentlich hinreichender Anlaß zu substantiellen Fragestellungen, ihren Gegenstand betreffend, sein. Doch wenn die postmoderne »Spaß-Gesellschaft« den kollektiven Narzismus in einem gigantischen Musikfestival zur Schau stellt und dabei Einblicke in das Innerste ihrer Musikkultur gewährt, die nämlich seit langem schon zu einem heiß umkämpften Terrain für die subtilen, immer wirksameren Formen der kultureller Machtausübung in Gesellschaft einerseits und den teils verbissenen, teils lustvollen Formen des Widerstands dagegen andererseits geworden ist, dann steht das Fach mit seiner geballten Kompetenz einer hilflosen Öffentlichkeit nicht etwa zur Seite, sondern es steht in sicherer Distanz beiseite - allenfalls bereit, aus gebührend historischem Abstand den Überlebenden des immer lauter werdenden Getümmels auf den Schlachtfeldern der musikalischen Alltagskultur nachträglich dann das Adelsprädikat »Tonkunst« anzuhängen und unter Umständen einen Platz wenigstens in den Kellergewölben der Musentempel einzuräumen. Gibt es in Zeiten wie diesen wirklich nichts Wichtigeres, als beflissen der Funktion des geschichtlichen Platzanweisers nachzukommen?

Ein beliebtes Argument, das in diesem Zusammenhang in der Regel umgehend ins Feld geführt wird, besteht in der Forderung, doch zunächst erst einmal den Nachweis beizubringen, daß es sich bei den in Rede stehenden Musikformen überhaupt um einen kunsthaften und somit musikwissenschaftlichen Gegenstand handelt, denn schließlich hat die Veranstaltung jeglicher Kunstwissenschaft der Sache nach unausweichlich etwas mit ästhetischen und künstlerischen Werten zu tun. Dem ist zwar nicht zu widersprechen, jedoch mit der Frage zu begegnen, um wessen Werte es sich denn dabei handeln soll und mit welcher Berechtigung diejenigen von nicht eben kleinen Gruppen in Gesellschaft so umstandslos ausgeschlossen sind.2 Es macht nicht unbedingt einen vom Geist der Aufklärung, der Toleranz oder gar Solidarität getragenen Eindruck, wenn um das kulturelle Wertgefüge eines kleinen Teils der europäischen (oder europäisch geprägten) Mittelschichten, in denen der amerikanische Musikologe Joseph Kerman das dominante Wertgefüge der Musikwissenschaft nicht ganz unzutreffend verortet sieht,3 eine Bastion errichtet und gegen den überwiegenden »Rest« von Musikpraktiken und Musikkulturen mit Militanz verteidigt wird. Vor allem aber ist längst der Punkt erreicht, wo gefragt werden muß, welchen Sinn es denn wohl hat, solche Bastionen theoretisch weiter hochzurüsten, wenn sie doch als solche öffentlich kaum noch jemand wahrnimmt. Schließlich laufen die in der Öffentlichkeit geführten Diskussionen um Musik und Musikkultur, um das Verhältnis von kommerziellen und ästhetischen Prozessen, um den Zusammenhang von Musik- und Gesellschaftspraxis, Macht und Klang, Klang und Bedeutung doch in einer so großen Entfernung von diesen Bastionen ab, daß es beinahe schon gleichgültig geworden scheint, was die mit der Sache der Musik wissenschaftlich Befaßten dort eigentlich treiben.

Wenn man im Abriß von Mauern nicht nur eine Kapitulation vor dem Zeitgeist sieht, dann ließe sich auch aus der Demontage der geistigen Mauern um die Bastionen der musikalischen Hochkultur durchaus Gewinn ziehen. Es muß nicht akademischer Voyeurismus oder ein wertneutraler und kritikloser Populismus sein, wenn ernsthaft der Frage nachgegangen wird, was etwa den Techno-Jüngern die übereinandergeschichteten Rhythmuspatterns, die sequenzergenerierten Loops und die den Körper durchdringenden Vibrationen der pumpenden Lautsprecherboxen in ihren Ohren zu Musik werden läßt. Was sind die Transformationsregeln, nach denen hier die Ordnung der Klänge in das kulturelle Differenzgefüge einer symbolischen Ordnung übersetzt wird, in der sie Sinn, ästhetische Wertigkeit und eine kulturelle Bedeutung erhalten, die in ihrer Ambivalenz zwischen dem narzistisch gewordenen Anspruch auf individuelle Selbstbehauptung und der kulturellen Produktion von Subjektivität in Form systemkonformer »Wohlfühl-Apparate« für das Funktionieren der postindustriellen Wohlstandsgesellschaft offenkundig ein immenses Maß an Relevanz besitzt? Aus der Beantwortung solcher und ähnlicher Fragen sind durchaus erhellende Einsichten in die inneren Zusammenhänge von Musikpraxis insgesamt zu gewinnen, die den Blick für die Existenzbedingungen von Musik in anderen historischen Epochen, in anderen sozialen Kontexten sowie für andere kulturelle Prämissen der Organisation des Umgangs mit Klang als Musik zu schärfen vermögen.

Der damit angerissene Problemkontext ist im vorliegenden Rahmen weder weiterzuverfolgen noch etwa auszuschreiten.4 Doch ein hierfür in besonderer Weise symptomatischer Aspekt sei herausgegriffen und etwas genauerer Betrachtung unterzogen. Die Konfrontation mit Erscheinungsformen von musikalischer Praxis wie der Techno-Kultur läßt nämlich mit einer kaum zu übersehenden Deutlichkeit hervortreten, in welchem Maße musikalische Erfahrungen und ästhetische Wertmuster durch die in Gesellschaft organisierten Diskurse um und über Musik strukturiert sind. Mehr noch: Es offenbart, daß das Musikalische selbst in hohem Grad diskursiv konstituiert ist, auf einen Begriff von Musik bezogen und von diesem in einer Weise abhängig ist, die weit über dessen rein deskriptive Seite hinausgeht. Eines der zentralen Instrumentarien - und das ganz gewiß nicht nur in den popmusikalischen Zusammenhängen -, die Klangereignisse als Musik wahrnehmbar, in einen sinnbesetzten Zusammenhang einordenbar und auf diesem Hintergrund ästhetisch bewertbar machen, sind die als Bestandteil von Musikpraxis in Sprache organisierten Diskurse. Sie besitzen als begriffliche Aussagesysteme nicht nur ein relatives Eigenleben, sondern indem sie an der Hervorbringung dessen beteiligt sind, was sie vorgeben nur zu beschreiben, zudem eine konstitutive Kraft, die durch ihre Wirkungsspezifik gemeinhin dem kritischen Blick entzogen bleibt.

Dem französischen Historiker Michel Foucault ist die Einsicht zu verdanken, daß die Art und Weise, in der Sachverhalte gleich welcher Art benannt, in Begriffe gefaßt und zur Grundlage von Aussagen gemacht werden, dieselben insofern auch konstituiert, als Sprache Sachverhalte niemals neutral, sondern stets in einer verhaltens- und praxisrelevanten Projektion repräsentiert. Es ist ein je bestimmtes Regime des Wissens, der darauf aufbauenden Logik des Aussagens und der Benennung, das sich in Abhängigkeit von der Macht zur Definition und ihrer jeweiligen Verteilung in Gesellschaft, des Verhältnisses der Sprecher zueinander und der zwischen ihnen organisierten Kompetenzverteilung als Diskurs über »die Ordnung der Dinge« legt, diese als eine Ordnung entlang jeweils durchgesetzter Interessenkonstellationen produziert und damit die Dinge aus ihrem differenzlosen »So-Sein« in das »Da-Sein« eines geordneten Systems von Unterschieden, Ausschließungen, Abgrenzungen, Bezügen und Zusammenhängen überführt.5

Obzwar üblicherweise nicht auf diese Begrifflichkeit bezogen, so betreibt auch Musikwissenschaft weitgehend das Geschäft der Produktion eines Diskurses - und zwar gleich in doppelter Hinsicht. Zum einen ist sie dem diskursiven System der Geisteswissenschaften und den hierin geltenden theoretischen Paradigmen angeschlossen; zum anderen, und häufig hiervon gar nicht zu trennen, liefert sie mit dem Musikbegriff, den sie verwaltet, und hierauf gegründeter, in sich mehr oder weniger kohärenter Aussagesysteme - wie etwa Musiktheorie und Musikästhetik oder die narrativen Konstruktionen von Musikgeschichte - die Grundlagen eines Diskurses, der diejenige Musikpraxis konstituiert, über die er stattfindet. Mögen sich Musikwissenschaftler auch für die einzigen halten, die hierzu legitimiert sind, die sie umgebende Gesellschaft hat die Definitionsmacht jedoch längst umverteilt, vervielfacht, technischen, kommerziellen, politischen und kulturellen Instanzen zuerkannt, die inzwischen eine Vielzahl miteinander konkurrierender musikalischer Diskurse hervorgebracht haben. Das betrifft nicht nur die relativ leicht faßbaren Aspekte auf der Oberfläche des Musikbegriffs, die darin verankerten Vorstellungen von musikalischer Kompetenz etwa oder die jeweils gültigen Paradigmen für »Musikalität« und für den Status des Musikers. Entscheidender noch, weil einige Ebenen tiefer liegend, sind die Begriffe, die sich die Angehörigen einer Kultur zum Beispiel von der Logik wahrnehmbarer Unterschiede machen, denn diese wird nach einem bestimmten Modus vermittels der Konstruktion musikalischer Diskurse auch auf vorgefundenes oder eigens hervorgebrachtes klangliches Material übertragen und so zu einer Grundlage des Musizierens. Die dichothomische Konstruktion von Unterscheidungen, die in polaren begrifflichen Gegensatzpaaren (»hoch-tief«, »laut-leise«, »schnell-langsam« etc.) abgebildet und durch Analogiebildung, Metonymie oder Metaphorik zur Grundlage entsprechender Systeme der klanglichen Ordnung gemacht werden können, sind nicht die einzig möglichen, wie die Auseinandersetzung mit außereuropäischen Kulturen inzwischen zutage gefördert hat.6 Doch selbst wenn solche binär konstruierten Unterscheidungslogiken, wie innerhalb der europäischen Kulturen, vorauszusetzen sind, ist weder deren Übersetzung in ein System klanglicher Ordnungen noch deren relative Hierarchisierung von irgendeiner Zwangsläufgigkeit. Daß die mit dem Begriffspaar »hoch-tief« abbildbaren Unterschiede (Tonhöhe) in den hierzulande vertrauten Formen des Musizierens vor denen rangieren, die sich in dem Begriffspaar »laut-leise« fassen lassen (Lautstärke), ist weder ein Naturgesetz noch per se einem Unterscheidungsprinzip überlegen, das sich beispielsweise in einem Begriffspaar wie »groovig-spacig« (Klangeigenschaft von Techno-Musik) abbildet. Vielmehr steht die Frage, inwieweit die kategorialen Konstruktionen musikalischer Sachverhalte selbst auf dieser elementaren Ebene ein Eigenleben führen und durch ihre normative Wirkung zur Grundlage von Wahrnehmungsstrategien werden, die ihrerseits dann das Musizieren prägen.

Insbesondere auf dem Feld der kommerziellen Musikproduktion, wo sich mit erfolgreich durchgesetzten diskursiven Konstruktionen des Musikalischen Machtzuwachs auf Märkten und unmittelbare Effekte in Form merkantiler Gratifikationen verbinden, kommt es bereits im Vorfeld des Musizierens in der Auseinandersetzung zwischen Musikindustrie, Musikern und Publikum (um nur die wichtigsten Faktoren zu benennen) zu einem permanenten Umbau musikalischer Diskurse, in die das Musizieren eingebettet ist. Ablesbar ist das nicht zuletzt an der hier zu beobachtenden Proliferation von Ordungsbegriffen, die mit herkömmlichen Genre- oder Stilkategorien des Musizierens nichts zu tun haben. Breakbeat, Jungle, Gabber, Goa, Drum&Bass, Ambient, House - um bei der Begriffswelt des Techno zu bleiben - sind diskursive Instrumente der Markierung von Differenz.7 Sie ziehen Grenzen entlang realer Unterschiede in den kulturellen und musikalischen Praxisformen, ohne diese jedoch zu fixieren oder auch nur fixieren zu wollen. Sie fungieren vielmehr als eine Art Platzhalter in einem Relationsgefüge von Positionen, in dem sie so lange behauptet und mit einer für Außenstehende oft völlig unverständlichen Vehemenz verteidigt werden, wie sich in den kulturellen Machtverhältnissen auf den Musikmärkten damit strategische Positionsgewinne erzielen lassen. Die Praxis des Musizierens dahinter mag sich inzwischen längst gravierend verändert haben.8 Eben deshalb lassen sich diese Kategorien abgelöst von ihrer diskursiven Funktion auch nicht fassen. Sie verbinden sich mit wechselnden Koordinaten und veränderlichen Inhalten, die allein durch die Funktion bestimmt sind, in dem Korrelationsgeflecht des Musikmarktes kulturelles Terrain abzustecken. Das kann sich mit spiel- oder klangtechnischen Unterschieden decken und an ihnen festgemacht sein (z.B. Gabber als eine besonders harte und überaus schnelle Variante des Techno), das kann vorhandene Unterschiede in einer anderen begrifflichen Fassung nur neu repräsentieren (z.B. die Ersetzung der Begriffe Tekkno oder Tekkkno durch den Begriff Gabber) oder solche auch hervorbringen (die Abspaltung von Drum&Bass aus dem, was bis Mitte der neunziger Jahre unterschiedslos als Jungle gefaßt war).

Wichtiger noch als solche mit Begriffen in der musikalische Landschaft verankerten Grenzziehungen sind die diskursiv produzierten Struktureffekte innerhalb der Organisation von Musikpraxis. Sie setzen die Beteiligten eines Diskurses in ein bestimmtes Verhältnis zueinander, weisen ihnen innerhalb eines kategorialen Bezugssystems jeweils eine bestimmte Position zu, die ihrem praktischen Handeln vorgeordnet ist und diesem eine bestimmte Reichweite, Verbindlichkeit und Normierungskraft gibt. Auch das wird an den kommerziellen Musikprozessen besonders deutlich, weil hier aufgrund der unmittelbaren kulturellen Rückwirkungen entsprechend umkämpft. So ist die Kategorie »Musiker« ein heiß umstrittener Gegenstand der diskursiven Auseinandersetzung, noch bevor überhaupt ein Ton erklingt. Aus der Applizierbarkeit dieser Kategorie leitet sich in hohem Maße einerseits der Zugang zu den ebenso knappen wie teuren Ressourcen von Studioproduktion und Medienöffentlichkeit ab, andererseits bildet die unumstrittene Zuerkennung des Musikerstatus eine der Voraussetzungen für die Akzeptanz beim Publikum. Kein Wunder also, daß alle Beteiligten - Musiker, Industrie wie Publikum - ein erhebliches Maß an Energie dafür aufwenden, diese Kategorie schon auf der sprachlich-diskursiven Ebene jeweils an bestimmte Inhalte zu binden, um so die Erfolgswahrscheinlichkeit für die Durchsetzung der eigenen Produkte und Interessen zu erhöhen. Was im Nachhinein dann wie der bloß deskriptive Nachvollzug von Veränderungen auf der Ebene des praktischen Musizierens erscheint, verdankt sich ein gut Stück weit der Normierungskraft solcher und ähnlicher Kategorien. Die Frage also, ob Elvis Presley überhaupt als »Musiker« zu bezeichnen sei und mit welcher Berechtigung er folglich im Studio stand, beschäftigte seine Zeitgenossen in den fünfziger Jahren ebenso intensiv,9 wie ein knappes Jahrzehnt später die jugendlichen Gitarrengruppen aus dem Nordwesten Englands - allen voran die Beatles - die britische Musikergewerkschaft auf den Plan riefen, die die Interessen ihrer Mitglieder gegen die Flut von Amateuren mit dem Verweis darauf zu behaupten suchte, daß der Begriff »Musiker« eine schutzwürdige Berufsbezeichnung sei.10

Normalerweise freilich laufen solche diskursiven Auseinandersetzungen subtiler ab, vollziehen sich im wesentlichen in der immensen Literaturflut, die in Form von Nachrichten, Rezensionen und Musiker-Porträts in Jugend-, Musik- und Szenezeitschriften, von populären Biographien und Fanzines, neuerdings auch per Homepages und News Groups im Internet den Musikprozeß umgeben - nicht zu vergessen die Anmoderationen von Musiktiteln in den Medien, auf die durch eine nicht minder umfangreiche Flut von Presse- und Info-Materialien seitens der Musiker wie der Industrie mit passend bereitgehaltenen Formulierungen Einfluß zu nehmen versucht wird. Die Aussichten auf kommerziellen Erfolg sind um so größer, je besser es gelingt, einen bestimmten Typ von Musiker, ein bestimmtes Konzept von Musik, einen bestimmten Referenzbezug des Musizierens abgelöst vom Einzelstück und über es hinausgehend kulturell zu verankern. Die Ebene, auf der das geschieht, sind die um die Musik und hinter ihr organisierten Diskurse.

Ihre kaum zu überschätzende Wirksamkeit beruht vor allem darauf, daß Kategorien wie eben diejenige des »Musikers« in ganze Aussagesysteme eingebunden sind, auf zumeist abstrakten, vielfach nur in Form allgemeiner Strukturvorstellungen faßbaren Grundannahmen beruhen, die sie unausgesprochen mit sich führen und als Systemeffekte praktisch wirksam werden lassen. So bezeichnet der Begriff »Musiker« eben mitnichten nur die geschichtlich entstandene arbeitsteilige Besonderung des Musizierens, sondern sie impliziert zugleich auf eine bestimmte Weise als ihren strukturellen Gegenpol den Hörer. Die Art und Weise, wie dieser Gegenpol impliziert ist, hat unmittelbare Folgen für den Umgang mit dem Medium Klang, das dieses Verhältnis dann praktisch vermittelt, denn aus ihm resultiert ein dann wieder in Begriffen verankertes und auf Begriffe bezogenes Wertgefüge. Auch hier sind mittlerweile alle denkbaren Möglichkeiten mobilisiert worden, um zum Zweck der Investitionssicherung das Musizieren mittels narrativer Strategien schon von vornherein in einen Referenzbezug zu stellen, in dem es beispielsweise nach dem Vorbild des Geniekults des 19. Jahrhunderts als das sich organisch entfaltende Äquivalent zur Biographie des Musikers erscheint. So wird indirekt dann jede Neuveröffentlichung als eine zwingende (also auch zwingend zu kaufenden) Folge der vorangegangenen definiert. Daß in der Regel sowohl die erzählte »Biographie« wie auch der suggerierte Zusammenhang zwischen »Werk« und »Leben« bloße diskursive Konstrukte sind, für die die Wirklichkeit allenfalls ein mehr oder weniger frei bearbeitetes Material geliefert hat, ändert nichts daran, daß eine auf diese Weise präsentierte Musik am Ende dann auch nach solchen Kriterien gehört, bewertet und verstanden wird.11 Das Marketingkonzept von CBS Columbia in den sechziger und siebziger Jahren für die Veröffentlichungen Bob Dylans in jener Zeit ist ein charakteristisches Beispiel hierfür.12

Umgekehrt hat auch der Widerstand gegen Vereinnahmungsstrategien eine diskursive Form erhalten. Wenn Musik als eine in Gesellschaft organisierte Praxis des Umgangs mit Klang der Einbettung und Verankerung in Diskursen bedarf, dann ist es nicht ohne Relevanz, wird, wie in der Techno-Kultur, die hier hervorgebrachte Klangwelt in einen Diskurs hineingestellt, der weder die Kategorie »Musiker« kennt, noch dessen strukturellen Gegenpol, den »Hörer«, wo statt von »Songs«, »Musiktiteln« oder »-stücken« vielmehr von »Tracks« die Rede ist. Das ist mitnichten bloß ein modischer Austausch von Begriffen und auch nicht nur eine Reaktion auf die kulturelle Zentrierung um die Diskothek anstelle der Konzert- oder Stadionbühne, die im Zentrum der Rockmusik stand. Vielmehr ist die Art und Weise, wie dieser Sachverhalt benannt ist, zu einer der Voraussetzung dessen geworden, was in diesem Kontext als Musik Akzeptanz findet. So steht an der Stelle des Musikers hier der Begriff »DJ« (Discjockey), und sein Treiben heißt nicht Musizieren, sondern »DJing«, sein Publikum nicht »Hörer«, sondern »Raver«.

Daß die Kategorie des Musikers nicht, wie noch vor einem Jahrzehnt mit der wachsenden Rolle des Produzenten, zu erweitern, zu verschieben und an veränderte kulturelle Sachverhalte anzupassen versucht wurde, sondern im Techno-Diskurs nun gar keine Rolle mehr spielt, besitzt ein hohes Maß an Signifikanz. Als in den frühen achtziger Jahren mit den Produzenten Trevor Horn, Adrian Sherwood, Mike Stock, Matt Aitken und Pete Waterman Post-Production, also die nachträgliche elektronische Bearbeitung des im Studio aufgenommenen Materials, einen Stellenwert erhielt, der aus dem Musiker einen bloßen Klang- und Materiallieferanten werden ließ, führte die damit problematisch gewordene Kategorie des »Musikers« nicht etwa zu deren Aufgabe. Sie ließ sich so ohne weiteres auch nicht auf den Produzenten, etwa als »Tonband-Musiker«, verschieben, denn so wie zum Musiker der Hörer im Saal, gehört zum Hörer der Musiker auf der Bühne. Produzenten aber stehen nun einmal nicht auf der Bühne. Der dominante musikalische Diskurs verlangte nach dem Musiker, zumal auf ihn als Star die gesamte Marketing-Maschinerie abgestimmt war. Und obwohl es einen prinzipiellen Unterschied ja nicht macht, ist das aus der Lautsprecheranlage in den Saal abgestrahlte Klangereignis nicht mehr live von einem per Tastendruck am Keyboard gesteuerten Tongenerator ausgelöst, wie in den Synthesizer dominierten Klangformen der Rockmusik jener Jahre üblich, sondern zuvor im Studio aufgezeichnet, technisch nachbearbeitet und dann per Tastendruck auf die Lautsprecheranlage gegeben, reagierte das Publikum mit wütenden Protesten auf den Versuch, die Position des Musikers dadurch zu retten, daß auf der Bühne ein Gerätepark gesteuert wird, über dem im wesentlichen vorproduziertes Material von der Konserve lief. Die jugendlichen Hörer fühlten sich durch Tonbandgeräte statt Gitarren und Keyboards bedienende Musiker betrogen, denn dieser Vorgang verlagerte den Ursprung des klanglichen Ereignisses vom Musiker weg an einen anonymen Ort und auf einen namenlosen, auf jeden Fall gesichtslosen Produzenten. Das aber machte es unmöglich - und darauf kam es an -, das klangliche Ereignis als »Ausdruck« eines musizierenden und sich im Musizieren entäußernden Subjekts zu hören. Die Macht des Diskurses erwies sich am Ende als wesentlich stärker als die Veränderung in der Praxis des Musizierens. Bands wie Visage, ABC oder Frankie Goes To Hollywood sahen sich schließlich gezwungen, zu den Tonbandeinspielungen an den stummgeschalteten Instrumenten die Bewegungsabläufe im Halbplayback zu mimen, die eine Rezeption ihrer Musik als unmittelbaren und authentischen Ausdruck ermöglichte, was Holly Johnson, Leadsänger von Frankie Goes to Hollywood, zu der treffenden Bemerkung veranlaßte: »Ich bin kein Künstler mehr, ich bin zu einem Kunstwerk geworden.«13

Ist der Discjockey anstelle des Musikers in den Mittelpunkt musikalischer Praxis gesetzt, dann ist damit ein neuer und ganz anders strukturierter Diskurs organisiert, mit weitreichenden praktischen Folgen. »DJing« ist nicht Musizieren, und zwar eben nicht nur auf der Ebene des beobachtbaren Handelns. Beim dem, was im Begriff »Musizieren« gebündelt wird, ist zwischen der Hervorbringung von Klang und dem Musiker ein unlösbarer und zwingender Zusammenhang unterstellt, der eine Subjektivierung und Personalisierung des klanglichen Ereignisses ermöglicht, die es zum Träger eines kommunikativen Vorgangs und den Musiker zum Autoren, als Interpret zum Mitautoren oder, wie in der Popmusik vielfach üblich, zum Pseudoautoren macht.14 Das »DJing« dagegen, das Herstellen einer Musikmixtur in der Diskothek, beruht mit den dafür herangezogenen Tonträgern auf schon vorhandenen Klängen, deren Ursprung hierbei ohne jede Relevanz ist. War es einmal »Musik« in der herkömmlichen Art, dann wird sie in diesen Mixturen in ihre klanglichen Einzelbestandteile zerlegt, werden passende Bruchstücke davon aneinandergefahren oder durch Bewegen der Platten unter der Nadel (scratching) in rhythmische Geräusche verwandelt. Kommen eigens hierfür hergestellt Techno-Produktionen zum Einsatz, dann sind es nicht »gespielte«, sondern technisch generierte Klänge, aus denen sie aufgebaut sind. Um eine personalisierte Klangauffassung und ein personalisierendes Hören auf jeden Fall auszuschließen, die Identität des kreativen Subjekts - wie immer auch benannt - unter allen Umständen nicht zum referentiellen Bezug für das klangliche Ereignis werden zu lassen, sind die DJs in der Regel auch noch mit Phantasienamen anonymisiert, die manchmal sogar nur projektbezogen benutzt werden oder für Kollektive von DJs stehen. Das hat zwar auch die Techno-Kultur nicht davor bewahrt, in Deutschland beispielsweise mit Marusha, Dr. Motte oder Westbam ihre eigenen Stars hervorzubringen, doch die fungieren eben nicht mehr als Fokus klangbezogener Sinnkonstrukte. Ohnehin ist das Techno-Phänomen gründlich mißverstanden, wird ihm ein antikommerzieller Impetus unterstellt. Die Anonymisierung hat zwar die etablierten, auf personalisierte Imagebildungen abgestellten Marketingstrategien der Tonträgerindustrie unmöglich gemacht und damit deren Zugriff erschwert, aber nicht, um Vermarktung zu verhindern, sondern um sie in die eigenen Hände zu nehmen.

Das vom Techno-DJ in seinen Mixturen eingesetzte Material besteht inzwischen zum überwiegenden Teil aus auf Tonträgern vorliegenden, eigens für diesen Zusammenhang produzierten DJ-Kreationen. Die Instrumente, die dabei zum Einsatz kommen, sind mit Rhythm und Bassline Composer sowie entsprechender Sequenzer-Software aus der Studioarbeit seit langem bekannt. Doch was hier am Ende steht, ist nicht ein Song, es ist ein »Track« - ursprünglich ein technischer Begriff, mit dem in der Kinematographie die neben dem Bild belichtete Tonspur, davon abgeleitet auch die auf Tonträger veröffentlichte Filmmusik (Soundtrack-Album) und im Kontext der Musikproduktion das technische Dasein eines Musikstücks (auf einem Tonträger befindet sich eine bestimmte Anzahl von »Tracks«) bezeichnet ist. Dieser Bezeichnungsmodus folgt nicht einfach nur der Tatsache, daß Techno fast vollständig ohne Singstimme auskommt und also der Songform nicht bedarf. Die Wahl dieses technischen Begriffs anstelle der möglichen Alternativen hat vor allem mit dem Umstand zu tun, daß das Ergebnis der Studioarbeit im Unterschied zu allen vorangegangenen Entwicklungsformen der Popmusik nicht mehr das ästhetisch und kulturell relevante Endprodukt ist. Im Studio wird mit den »Tracks« nur eine Art von Instrumenten produziert. Mit ihnen stellt der DJ dann vermittels eines ganzen Repertoires von Misch-Techniken in der Diskothek eine klangbezogene Erfahrung her, die keinerlei dingliches Äquivalent in Form eines aus diesem Zusammenhang herauslösbaren »Stücks«, »Titels« oder »Produkts« mehr besitzt. Da es damit durch Dritte weder ausgebeutet noch zerredet oder in der gehabten Art umdefiniert werden kann, entzieht die Praxis des »DJing« Techno tatsächlich nicht ohne Erfolg der Usurpation durch den etablierten Popmusikdiskurs.

Damit verändert sich zwangsläufig aber auch der Referenzbezug um die produzierten Klänge, die im Begriff »Track« eben nicht auf einen durch Hervorbringung oder Selektion von Klang intendierten Sinnzusammenhang bezogen sind. Für den Techno-Track ist nicht der Sinnbezug und damit ein narratives Strukturkonzept formprägend, sondern vielmehr sein »Design«, eine analog den industriell gefertigten Gegenständen auf den technischen Vorgang der Hervorbringung bezogene Gestaltgebung. Die adäquate Begrifflichkeit hierfür ist mithin ebenfalls nicht, wie etwa Thema und Motiv, von einem linear vorgestellten Entwicklungsprinzip abgeleitet, sondern sie ist der technischen Formgebung entlehnt, was ausschließt, sie auf einen subjektiv-intentionalen Kontext zu beziehen. Segment und Loop, Plateau und Konsistenz, Level und Knoten, Strom und Einschnitt sind die klanglich-strukturellen Formbegriffe der Technowelt.15

Mit anderen Worten: Techno wird nicht nur anders hervorgebracht als herkömmliche Formen von Popmusik, diese Musik trifft auf anders organisierte Wahrnehmungsstrategien, für die der Ursprung des klanglichen Ereignisses, ob von Sequenzern generiert, vorgefertigten MIDI-Datenbanken und Sound-Libraries entnommen, von den Softwareproduzenten den Composern einprogrammiert oder in herkömmlicher Art von einem Musiker eingespielt, letztlich gleichgültig ist und von seinen sinnlichen Wahrnehmungsqualitäten strikt getrennt bleibt. Es gibt hier keinen referentiellen Bezug zwischen dem klanglichen Ereignis und seinem Ursprung (Intention des Komponisten, Ausdruck des Musikers etc.). Eben deshalb ist das mit den Begriffen »Discjockey-Raver« beschriebene Verhältnis auch nicht einfach nur das Äquivalent zum Verhältnis »Musiker-Hörer« in den herkömmlichen Musik-Diskursen. In die Begriffe »Musiker« und »Hörer« ist ein Verhältnis eingeschrieben, das entlang einer linearen Achse um einander spiegelbildlich entgegengesetzte Pole organisiert ist. Produktion-Rezeption, Sender-Empfänger, Kodierung-Dekodierung sind nicht von ungefähr zu begrifflichen Äquivalenten geworden, mit denen dieses Verhältnis zu beschreiben versucht wurde, ohne auf die Implikationen dessen (wozu auch die übliche Setzung der jeweils männlichen Form von »Musiker« und »Hörer« gehört) an dieser Stelle näher eingehen zu können. Die Begriffe »DJ« und »Raver« dagegen implizieren eine radiale Organisation ihres Verhältnisses zueinander und schließen prinzipiell aus, daß dies bipolar gefaßt und auf das Modell intersubjektiver Kommunikation beziehbar ist. Raver kann man im Unterschied zum Hörer nie alleine sein, der Begriff bereits impliziert eine kollektive Veranstaltung (»Rave« ist im britischen Umgangsenglisch ein Synonym für »Party«). Der Discjockey bildet das Zentrum einer Menge, und was immer zwischen ihm und dieser Menge an Musik auch stattfinden mag, weder ist hier der idealtypisch gesetzte einzelne, das hörende Subjekt in seiner individuellen Subjektivität, der vorgestellte Adressat noch »drückt« sich der DJ in seinem Mix »aus«.

Nun gibt es »den« Raver freilich ebensowenig wie es »den« Hörer gibt, aber beide Begriffe beziehen die Vielfalt möglicher Verhaltensweisen Musik gegenüber auf jeweils bestimmte, praktisch für angemessen gehaltene und insofern normativ gesetzte Verhaltensmuster. Eingeschlossen darin ist die Zuweisung einer bestimmten, wenn auch nicht zwangsläufigen, so doch keinesfalls beliebigen Position im Musikprozeß. Gerade weil sie nicht zwangsläufig ist, bedarf es ihrer diskursiven Konstruktion. So ist der Hörer als ein solcher auf die Position des aufnehmenden Subjekts gesetzt. Der Position der Kategorie »Hörer« im Diskurs, wo sie den kategorialen Gegenpol zum »Musiker« bildet, entspricht die Position des Hörers in der Praxis des Musizierens, denn dort sitzt er dem Musiker nicht von ungefähr gegenüber. Diese Position impliziert, alles was von diesem Gegenüber ausgeht einer deutenden Wahrnehmungsstrategie zu unterwerfen und den Deutungserfolg im Rahmen eines kulturell vorgeschalteten Systems von Bedeutungen auf eine bestimmte, nämlich ästhetische Weise zu bewerten. Auch der Raver ist auf eine bestimmte Weise, die der Position dieser Kategorie in dem hier dominanten Diskurs, dem Techno-Diskurs, entspricht, gegenüber dem Discjockey positioniert. Auch diese Position impliziert einen bestimmten Bezug auf das, was hier vom Gegenüber ausgeht. Nur ist die dafür adäquate Wahrnehmungsstrategie nicht deutenden Charakters und an ein vorgeschaltetes System von Bedeutungen angeschlossen - bei technisch generierten Klangfolgen, die bewußt und mit nicht gerade geringem kulturellen Aufwand auf die Demontage der Funktion des »Autors« zielen, auch kaum sinnvoll. Hier ist sie vielmehr auf das Arrangement der Menge und den sich darin bewegenden Körper des Ravers bezogen, der sich selbst an den aus den Lautsprecherboxen quellenden Klangstrom förmlich »andockt«. Damit eröffnet sich ein bislang analytisch noch vollkommen unbearbeitetes Feld - die symbolische Konstruktion des Körpers (als kulturelles Artefakt im Unterschied zum organischem Leib) im Medium von Klang.

Der hier skizzierte Umbau des musikalischen Diskurses in der Techno-Kultur scheint damit zu bestätigen, was Kritiker der Popmusik schließlich schon immer zu wissen meinten -, daß nämlich diese Formen von Musikpraxis durch Sinndefizite, wenn nicht völligen Sinnverlust gekennzeichnet seien. Zwar folgt aus der konsequenten Umrichtung von Klang auf den Körper als Referenzbezug, auf körperliche Bewegung, Körpererfahrung und die symbolische Vermittlung dessen in Klang mitnichten, daß das tragende (sub-)kulturelle System deshalb »Sinn«-»los« sei. Doch ist nicht zu bestreiten, daß Klang damit jedenfalls als unmittelbarer Träger komplexerer Bedeutungen ausfällt. Das mag man beklagen, wobei es für ein nicht eben unerhebliches Maß an Weltfremdheit spräche, wird übersehen, daß die Mechanismen der sozialen Kontrolle seit langem schon nicht mehr über die Produktion von Sinn, sondern im direkten und unmittelbaren Zugriff auf den Körper laufen. Mit Milliardenaufwand zielen die kulturellen Kommunikationssysteme mittels Werbung auf das Körperbewußtsein und Körpergefühl des einzelnen, der zwar denken darf, was er will, aber wünschen muß, was er soll. Musik ist davon nicht nur nicht ausgenommen, sie steht ihrer Natur nach mitten in diesem Prozeß, ist ein bevorzugtes Terrain der sozialen und kulturellen Auseinandersetzung um den Körper und der sozialen Kontrolle über das Körperbewußtsein geworden. Was Techno dabei von vorangegangenen Formen der Popmusik unterscheidet, ist die völlige Illusionslosigkeit, mit der diese Auseinandersetzung hier angenommen ist und auf der Ebene der kulturellen Körperinszenierung auszutragen versucht wird. So, wie die Rebellen der Rock-Revolution, die mit weitgespannten Gesellschaftsutopien noch das Feld der Sinnproduktion zu besetzen suchten (»I can't get no satisfaction...«), als gealterte Dauerjugendliche auf ihren Schlössern in Südfrankreich die völlige Folgenlosigkeit dessen medienträchtig vorleben, macht sich die Generation ihrer Kinder einen Spaß daraus, wochenlang das Feuilleton mit so überaus sinnträchtigen Sentenzen wie »Let the sun shine in your heart« zu beschäftigen. Wer das für zynisch hält, möge sich fragen, was sein Anteil an diesem Zustand ist.

Damit bleibt festzuhalten: Techno findet als Musikform eine seiner konstitutiven Bedingungen - gewiß nicht die einzige, aber eine sehr wesentliche - in einem Diskurs, der die Ordnung der Klänge umdefiniert von einem System der Repräsentation (von Bedeutungen) in ein System der Partizipation (des körperlichen Mitvollzugs). In die Begrifflichkeit des Diskurses hat sich eine Praxis eingeschrieben, die ihrerseits in dieser Begrifflichkeit verankert und insofern durch sie konstituiert ist, als damit zugleich ein referentielles Bezugsystem, Differenzkriterien sowie Aneignungs- und Wahrnehmungsstrategien gesetzt sind, die Klang durch Bezug auf eine außerhalb seiner selbst liegenden Referenzebene als Musik, also als ein nach bestimmten Prinzipien geordnetes Ganzes, wahrnehmbar machen. Um klingende Sachverhalte als musikalische wahrnehmen oder hervorbringen zu können, bedarf es in jedem Fall der Konstruktion eines referentiellen Bezugssystem, das das akustische Ereignis als Bestandteil einer bestimmten Ordnung, als Träger eines Zusammenhangs, Ausdruck von Kontinuität oder Diskontinuität und damit als Moment einer geordneten Ganzheit in Erscheinung treten läßt. Das Hörbare und das Sagbare sind zwar nicht aufeinander zu reduzieren, unterhalten aber überaus komplexe Beziehungen untereinander. Das mag in den kommerziell produzierten Musikformen sehr vordergründig sein, weil zu einem eigenständigen Feld der Auseinandersetzung geworden, ist jedoch ein weit darüber hinaus gehendes Thema, das es analytisch erst noch aufzuschließen gilt. Musikpraxis findet immer auf dem Hintergrund von Diskursen statt, die als kollektiv produzierte Aussagesysteme mit Prozeduren der Exklusion und Inklusion, der Abgrenzung und Eingrenzung, der Differenz und des Zusammenhangs der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit von Klang eine Ordnung aufprägen, ohne die das Musizieren nicht möglich ist. Das beginnt bei so elementaren Aspekten wie der konzeptuellen Vorstellung des Tons und der Konstruktion von Skalen und reicht bis zu so komplexen Vorgängen wie dem referentiellen Bezug zwischen Klang und dem kulturellen Kontext seiner Hervorbringung. Im Unterschied zu explizit formulierten Theorien über Musik und das Musizieren, die eine der Erscheinungsformen musikbezogener Diskurse sein können, regulieren diese zumeist auf dem Wege der Implikation, der Normalisierung und Normierung die Prinzipien, die sowohl der Praxis des Musizierens, der Erfahrung von Musik wie der beides verbindenden Begriffswelt zugrunde liegen und steuern damit ein hochkomplexes Wechselverhältnis. Ob die Ordnung der Klänge auf der Grundlage von Organisationsprinzipien wie Kontrastierung, Transformation, Intensivierung, Modifizierung, Polarisierung und Konnexion oder wie im Falle von Techno auf der Grundlage von Transduktion, Adjunktion, Disjunktion, Segmentierung und Serialisierung beruht, regeln Diskurse sowohl auf der Ebene des Machens, der Ebene des Erfahrens und Bewertens wie der Ebene des Sagens und Begreifens, Kategorisierens und Systematisierens. Daß diese Ebenen im Diskurs auf einen Hintergrund bezogen sind, der eine implizite Verbindung zwischen ihnen herstellt und ihre Verschiebung gegeneinander stets auf allen Ebenen gleichermaßen wirksam werden läßt, gibt ihm seine untergründige Wirkungsmacht. Ohne Rekonstruktion des diskursiven Regimes, das eine Praxis zur Selbstregulierung hervorbringt, bleibt ihre Reflexion stets an einer entscheidenden Stelle blind, an der Stelle nämlich, wo es um die Macht zur Definition, zur Normalisierung und Normierung geht. Das gilt für Musik ebenso wie für jede andere Form menschlicher Praxis in Gesellschaft. An dieser Stelle freilich hat Musikwissenschaft, selbst auch nichts anderes als eine bestimmte Form von gesellschaftlicher Praxis, dann doch - eine ganze Menge sogar - mit der Love Parade zu tun.


1. Für den Fall, daß es trotz der gewaltigen Medienresonanz tatsächlich einem Zeitgenossen gelungen sein sollte, das seit 1989 alljährlich an einem Juliwochenende in Berlin veranstaltete Musikspektakel nicht wahrzunehmen: Die Love Parade ist eine von dem Discjockey Dr. Motte (alias Matthias Roeingh) ins Leben gerufene umzugsartige Massenparty der jugendlichen Anhänger der Techno-Musik, auch Raver genannt, im Zentrum Berlins. Die jüngste dieser Veranstaltungen am 12. Juli 1997 versammelte unter dem Motte »Let the sun shine in your heart« rund eineinhalb Millionen Jugendliche.

2. vgl. hierzu auch die überaus aufschlußreichen Gedanken von Christopher Small, Whose Music Do We Teach, Anyway?, bislang allerdings nur online zugänglich unter http://www.musekids.org/whose.html oder http://www2.rz.hu-berlin.de/inside/fpm/indexonb.htm

3. Kerman: Musikwissenschaftler »kommen aus den Mittelschichten... Es sind die Werte der Mittelschichten, die sie propagieren und zu verteidigen suchen« - J. Kerman, Contemplating Music. Challenges to Musicology, (Harvard University Press) Cambridge, MA 1985, 11.

4. ausführlicher und grundsätzlicher hierzu vgl. J. Shepherd/P. Wicke, Music and Cultural Theory, (Polity) Cambridge 1997

5. vgl. hierzu insbes. M. Foucault, Archäologie des Wissens, (Suhrkamp) Frankfurt/Main 1973 sowie ders., Die Ordnung des Diskurses, (Fischer) Frankfurt/Main 1991; ausführlicher zu dem sich daraus ergebenden methodologischen Ansatz vgl. insbes. T. A. van Dijk (Hrsg.), Discourse Studies. A Multidisciplinary Introduction, 2 Bde, (Sage) London 1997

6. Auf diesem Aspekt hat vor allem Steven Feld in seiner bahnbrechenden Arbeit über Sound and Sentiment. Birds, Weeping. Poetics and Song on Kaluli Expression, (Univeresity of Pennsylvania) Philadelphia 21990, hingewiesen; vgl. auch John Blacking, How Musical Is Man?, (University of Washington) Seattle 1973 u. Charles Keil, Tiv Song. The Sociology of Art in a Classless Society, (University Of Chicago) Chicago, London 1979

7. zu diesen Begriffen im einzelnen vgl. die entsprechende Einträge in P. Wicke/K. u. W. Ziegenrücker, Pop-Rock-Jazz-Folk-Weltmusik. Handbuch der populären Musik, (Schott) Mainz 1997

8. Häufig finden sich solche Begriffe dann am Ende über völlig unvereinbare Formen von Musikpraxis gezogen. Das Etikett Rock'n'Roll beispielsweise bündelte nicht nur Produktionen von Elvis Presley, Jerry Lee Lewis, Chuck Berry und Bo Diddley - an sich schon keineswegs nur durch graduelle Unterschiede des Musizierens geprägt. Der Begriff stand auch für die geradezu im Gegensatz dazu stehende musikalische Welt der aus der Gospeltradition hervorgegangenen Vocal Groups (Drifters, Coasters, Dominoes etc.).

9. vgl. z. B. Ch. Hamm, Yesterdays: Popular Song in America, (Norton) New York 1979, S. 391ff

10. vgl. S. Frith, The Sociology of Rock, (Constable) London 1978, S. 159ff

11. zu den ästhetischen Implikationen vgl. P. Wicke, Rockmusik: Culture - Aesthetik - Sociology, (Cambridge University Press) Cambridge, New York, Sydney 1990

12. detaillierter hierzu vgl. beispielsweise R. Shelton, No Direction Home. The Life and Music of Bob Dylan, (Penguin) Harmondsworth 1986; vgl. hierzu auch das Interview mit dem damals verantwortlichen A&R-Direktor der Columbia, John Hammond, in P. Wicke, Bigger Than Life. Rock & Pop in den USA, (Reclam) Leipzig 1991, 32ff

13. zit. n. New Musical Express, 30. März 1985, S. 15

14. Sänger und Musiker spielen auf der Bühne die Rolle des im Musizieren spontan und unmittelbar auf das Publikum reagierenden, sich ausdrückenden Subjekts, obwohl in Wirklichkeit eine durchchoreographierte Show mit Material abläuft, das von professionellen Songschreibern angekauft wurde. Popmusik verbindet sich deshalb in der Regel mit den Namen von Interpreten, während die Autoren in der Öffentlichkeit vielfach nahezu unbekannt sind.

15. Flyers, Szenezeitschriften und die im Internet massenhaft zu findenden Techno-Pages (zum Einstieg vgl. etwa http://www.techno.de) liefern ein unerschöpfliches Belegmaterial hierfür. Wer die traditionellen Medien bevorzugt: Ph. Anz/P. Walter, techno, (Ricco Bilger) Zürich 1995 und Die Gestalten/Chromapark (Hrsg.), Localizer 1.0: The Techno House Book, (Die-Gestalten-Verlag) Berlin 1995, sind brauchbare Versuche, die Techno-Szene in gedruckter Form zu dokumentieren.


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